Hallo Dennis,
ich erlaube mir mal, aus meinen Erfahrungen eine Antwort zu wagen. Die genannten Sterne gehören für mich zu den tatsächlichen Augenprüfern, und ich habe sie mit bloßem Auge wiederholt auflösen können. Selbst bei Alpha LIB ist mir das noch vor kurzem mit meinen 50+ Jahren gelungen (wenn er auch eher länglich als getrennt erschien). Aber der Abstand ist nicht einmal das Entscheidende. Epsilon LYR ist mit 3' aufgrund der etwa gleichen Helligkeit beider Komponenten leichter zu trennen als Alpha LIB mit 4' und einem deutlich größeren Helligkeitsunterschied (2.5 mag).
Und bei einem Helligkeitsunterschied spielt auch der Überstrahlungseffekt eine Rolle: je näher ein schwächerer Stern an einem helleren dran ist, wird er für das Auge noch einmal abgeschwächt. Meine eigenen Beobachtungen zu diesem Effekt im vergangenen Jahr (
Re: Überstrahlungseffekt beim Jupiter) bestätigen die Aussage Minnaerts: Jupitermonde sind in der Dämmerung am ehesten Sichtbar, da der Überstrahlungseffekt am Dämmerhimmel noch nicht greift. Bei dunklem Himmel erscheinen die Monde –je nach Abstand zum Jupiter– um 1 bis 2 mag schwächer, so dass sie schon weit schwächer als 6. Größe erscheinen.
So weit zum Aspekt der Trennung enger Doppelsterne. Im vergangenen Mai habe ich versucht, nach dem Merkur im Transit vor der Sonne zu schauen (
Merkurtransit – haarscharf an der Freisichtigkeit vorbei?). Er erscheint dann zwar nur 0.2' groß, aber hier geht es ja nicht darum, ihn als Scheibe zu sehen (was dem menschlichen Auge nicht möglich ist), sondern als Punkt vor der hellen Sonnenscheibe. Ich habe ihn zwar nicht sehen können, aber aufgrund der Sichtbarkeit des Sonnenflecken vermute ich, dass dies unter optimalen Witterungsbedingungen vielleicht doch möglich gewesen wäre. Im Vorfeld habe ich gelegentlich Sonnenflecken mit einem Umbra-Durchmesser von 0.2' mit bloßem Auge (+SoFi-Brille!) erkennen können.
Und nun zur Venus selbst: Ich halte es für möglich, dass Venus als Sichel gesehen werden k ö n n t e, wenn der Beobachter außergewöhnlich gute Augen hat und extrem gute Witterungsbedingungen herrschen. Im kommenden Juni gibt es bei der unteren Konjunktion die Möglichkeit, dieses zu testen, da Venus für mehrere Tage Abend-und Morgenstern gleichzeitig sein wird (er zieht etwa 5° nördlich der Sonne vorbei). ABER ich gebe zu bedenken, das die Venussichel dann extrem dünn ist und vermute, dass das Auge nur die Gesamthelligkeit und nicht die Form wird wahrnehmen können. Schließlich besteht die Venussichel nicht aus zwei helleren Punkten im Abstand von 1', sondern die hauchdünne Sichel ist auf eine Fläche von 1.0' x 0.5' "verschmiert". Und da halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass das menschliche Auge diese Sichel auflösen kann. Als unmöglich möchte ich es jedoch nicht ausschließen. Ich erinnere mich, dass vor vielen vielen Jahren jemand hier im Forum berichtet hat, dass seine Frau –in Unkenntnis jeglicher astronomischen Tatsachen– den Jupiter, den er gerade mit dem Fernrohr beobachtete, als "den Stern mit den beiden Streifen" bezeichnete. Auch wenn diese Aussage ungeprüft bleibt: es besteht die Möglichkeit, dass einzelne Menschen durchaus äußerst scharfe Augen haben können. Solche werden die Venus auch als Sichel sehen können.
Wer auch immer Interesse an dem Thema hat: ich kann nur empfehlen, möglichst bald mit regelmäßigen Venusbeobachtungen zu beginnen, damit in den entscheidenden Tagen im Juni dann genug Erfahrung vorhanden ist, um entsprechende Beobachtungen sicher durchführen zu können.
Christoph